Markus Berges: Irre Wolken

Eine bewegende, melancholische und humorvolle, sensibel und dezent erzählte Coming-of-Age-Geschichte von Erdmöbel-Sänger Markus Berges

von Gérard Otremba

„Der gehört in die Hülle“, sagten Menschen über Menschen, die etwas anders tickten und meinten die psychiatrische Anstalt. Sagten die Menschen im münsterländischen Heimatort des Protagonisten im neuen Roman von Markus Berges, „Irre Wolken“. Woher die Bezeichnung stammte, wusste keiner so recht, die phonetische Ähnlichkeit mit der Hölle nahm man billigend in Kauf. Dort, also nicht in der Hölle, sondern in der Psychiatrie, einer kirchlichen Einrichtung, in der nur Frauen behandelt werden, landet der 19-jährige Ich-Erzähler, der den Satz bereits als Kind von den Erwachsenen gehört hat, während seines freiwilligen sozialen Jahres, das er nach seiner Ausmusterung antritt.

Dritter Roman von Markus Berges

Markus Berges Irre Wolken Cover Rowohlt Berlin

Von der neu eingelieferten, an Schizophrenie erkrankten Insassin Anne erhält der Noch-Teenager alsbald den Kosenamen „Kuli“ – weshalb, darauf kann er sich zunächst keinen Reim machen und die Auflösung erfolgt erst später in diesem von Markus Berges so flüssig, sensibel und dezent erzählten Roman. Berges, Jahrgang 1966, katapultiert die Leser in seinem nach „Ein langer Brief an September Nowak“ sowie „Die Köchin von Bob Dylan“ dritten Prosawerk in das Jahr 1986, das u.a. aufgrund des Reaktorunglücks in Tschernobyl weltweit in Erinnerung bleibt. Ein nicht ganz unwichtiger Faktor auch für unsere beiden Hauptfiguren, leidet doch Anne an einer ausgeprägten Angst vor der Atomkraft und weil Erzähler „Kuli“ sich in sie verliebt, beschäftigt er sich zwangsläufig in doppelter Art mit den Folgen des damals als Super-Gau eingestuften Unfalls.

Eine zum Scheitern verurteilte Liebe

Die ein paar Jahre ältere Anne ist Kulis erste große Liebe, eine eigentlich unmögliche, Hoffnungen und Träume evozierende, aber letztendlich auch zum Scheitern verurteilte Liebe. Aber die beiden versuchen es, der übergewichtige, sich auf Diät befindliche jugendliche Held der Geschichte und seine ihn in eine „Annewolke“ umhüllende, Fotodesign studierende Angebetete. Nachdem Anne aus der Anstalt ausgerissen ist, verbringt sie mit Kuli eine gemeinsame Zeit an den Ufern der Ems. Für sie die wohl entspannteste Zeit ihres Lebens, für Kuli die wohl aufregendste. In einem wunderbar lakonischen Stil erzählt Markus Berges diese bewegende, melancholische und zugleich auch humorvolle Coming-of-Age-Story. In der sich der auch als Erdmöbel-Sänger bekannte Schriftsteller nicht nur auf die vordergründige Liebesgeschichte unter schwierigen Bedingungen konzentriert, sondern seiner Hauptfigur Raum zur Entfaltung im Bereich der Musik lässt.

Zwischen Talking Heads und Opus

Schließlich hat Kuli ein Jahrzehnt Musikschule hinter sich, spielt Gitarre und wird Mitglied der Nachwuchsband Het Amalfi Tigers, mit der eine abenteuerliche Reise zu einem Gig ins niederländische Groningen erlebt. Darüber hinaus lässt ihn Markus Berges ein Gespür für ansprechende Musik (Elvis Costello, Talking Heads, The Style Council) gegenüber dem Radiomainstream (Opus, Phil Collins) der 80er-Jahre entwickeln. Und mit der sechsseitigen Beschreibung einer Karnevalsveranstaltung von Insassen und Pflegepersonal gelingt Berges ein grandioses Gesellschaftsabbild. Neben „Lichtungen“ von Iris Wolff gehört „Irre Wolken“ zu meinen bisherigen Kandidaten für die Long- und Shortlist für der den Deutschen Buchpreis.   

Markus Berges: „Irre Wolken“, Rowohlt Berlin, Hardcover, 288 Seiten, 978-3-7371-0103-5, 24 Euro. (Beitragsbild von Matthias Sandmann)     

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